Ein Buch-Mahnmal «gegen das Vergessen»

Erstellt: 06. November 2024
  • 1968 herrschte noch Prügelpädagogik in der bernischen Erziehungsanstalt Tessenberg. Dorthin haben die Nidwaldner Behörden Walter B. eingewiesen – zur «Nacherziehung». Der Grund: «Entwenden von Motorfahrzeugen», und «Nachschleppen eines Fahrrades mit Motorfahrrad». Aufseher ohrfeigten ihn. Beim Versuch zu entwischen, wurde er in die Arrestzelle gesperrt – bei Wasser und Suppe mit halber Brotration. Zuvor rasierte das Personal ihm den Kopf kahl. Erst das Einschalten eines Anwalts der Eltern führten zur Entlassung. Der «Beobachter» machte die brutalen Praktiken publik. Danach nahm eine Kommission das Heim unter die Lupe. 

    Einer von vielen Fällen, die die beiden Historikerinnen Sonja Matter und Tanja Rietmann mit intensiven Archivrecherchen und Zeitzeugengesprächen ans Licht brachten. Anstoss zur Aufarbeitung gab die Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Sie entschuldigte sich 2013 für das Leid und das Unrecht, das Betroffene durch fürsorgerische Zwangsmassnahmen erlitten haben und forderte die Kantone, dieses dunkle Kapitel aufzuarbeiten. Das nun mehr abgeschlossene Forschungsprojekt  wurde vom Kanton, den elf Nidwaldner Gemeinden und den beiden Landeskirchen finanziert und der HVN bezahlte den Druck. Das nun erschienene Buch ist nach den Worten von HVN-Präsidentin Brigitt Flüeler ein «Mahnmal gegen das Vergessen».

    Jahrzehntelang gerieten armutsgefährdete Menschen oder Personen, die sich nicht dem Diktat gesellschaftlicher Normvorstellung unterwarfen, oft in die Mühlen einer patriarchalischen Fürsorgebürokratie. Arbeitsscheu, unsittlicher Lebenswandel, dem Alkoholismus verfallen – wem ein solches Etikett anhaftete, lief Gefahr, im Armenhaus oder auch in einer geschlossenen Anstalt eingeliefert zu werden. «Gefallenen» Müttern, die ein Kind ohne Trauschein zur Welt brachten, drohte oft die Zwangsadoption ihres Babys. Für die «Gefallenen», unverheiratete Schwangere, gründete die Luzerner Sektion des «Schweizerischen Katholischen Fürsorgevereins» das Mütter- und Kinderheim Alpenblick in Hergiswil, um verborgen hinter hohen Hecken des Heims zu gebären.

    Der Alpenblick war nicht nur für «gefallene Mädchen» aus Nidwalden da, sondern eine Innerschweizer Institution. Sie war ganz der katholischen Moral verpflichtet, über die wie in den meisten anderen Nidwaldner Fürsorgeeinrichtungen katholische Schwestern wachten. Das Personal hatte kaum Zeit für Kontakte mit den Säuglingen.  Täglich stand beispielsweise das Wäschewaschen von 1000 Windeln an. Permanent überfordertes Personal war ein Merkmal, das sich nicht nur in Hergiswil, sondern durch die ganze Fürsorgegeschichte des Kantons zog. Gegenüber Menschen in prekären Lebenssituationen zeigten sich die Behörden knausrig.

    1968 schloss der Alpenblick. Ein Aufbruch war nun in Nidwalden zu spüren. 1970 schob das Verwaltungsgericht den fürsorgerischen Zwangsmassnahme den Riegel. In einem aufsehenerregenden Fall wehrte sich ein Mann gegen die verordnete Zwangsmassnahme und erhielt Recht. Der beklagte Armenpräsident empörte sich, dass nun einem Armenhäusler mehr geglaubt werde als ihm. Aber erst jetzt, Jahrzehnte später, werden diese und andere Geschichten aufgeschrieben und geben den Biografien der Betroffenen ein Gesicht. 

    Buchvernissage
    10. November 2024, 16.00 Uhr
    Stans, Pestalozzischulzentrum

    Vereine Stans

    Verein

    Nidwaldner Blitz AG

    Autor

    Delf Bucher

    Fotograf

    Lisa Meyerlist


    © 2024 Verlagsgesellschaft Nidwaldner Blitz AG